
Etwa 90 Nutzer*innen und Unterstützer*innen des Stadtteilladens Li(e)ber Anders versammelten sich am Samstag, 31.07.2021, ein letztes Mal an seinem langjährigen Standort in der Iltisstraße 34 und nahmen Abschied von den gekündigten Räumlichkeiten. (Bericht und Fotos)
In diesem Zuge wurde verkündet, dass der Verein zur Förderung der politischen Bildung in Gaarden e.V., Träger des Li(e)ber Anders, als Übergangslösung einen Raum der Stadt Kiel im Kirchenweg 31 anmieten konnte, wo die Aktivitäten des Projekts ab sofort auf drei Monate berfristet im Exil fortgesetzt werden. Die Suche nach einer langfristigen Perspektive geht jedoch weiter.
Nachfolgend find ihr die auf der Kundgebung verlesene Erklärung des Nutzer*innenplenums des Li(e)ber Anders zum Auszug aus der Iltisstraße.
Liebe Freund*innen und Genoss*innen, liebe Nachbar*innen!
Heute ist ein schlechter Tag. Ein schlechter Tag für die Iltisstraße 34, ein schlechter Tag für Gaarden und ein schlechter Tag für die radikale Linke in Kiel. Mit dem heutigen Tag läuft der gekündigte Mietvertrag für unsere Räumlichkeiten hier in der Iltisstraße 34 aus. Hauseigentümerin Ulrike Berger ist es damit gelungen, unseren seit drei Jahrzehnten selbstverwalteten Ort der Solidarität und der politischen Organisierung mutwillig zu zerstören. Der Verein zur Förderung der politischen Bildung in Gaarden e.V., der rechtliche Überbau des Li(e)ber Anders, wird im Anschluss an diese Kundgebung fristgerecht die Schlüssel abgeben.
Dafür sind wir allen, die vielleicht darauf gehofft haben, dass wir uns heute nicht dem Gesetz der Reichen beugen und uns stattdessen dem Rauswurf offensiv verweigern, Rechenschaft schuldig. All denjenigen Nachbar*innen, die sich tagtäglich ganz allein mit der Willkür ihrer Vermieter*innen rumschlagen müssen, hätten wir, die in dieser Scheißsituation zumindest über ein Netzwerk politischer Gruppen und ein vielschichtiges Umfeld verfügen, liebend gern ein ermutigendes Signal gesendet. Wir hätten in einer Zeit, in der auch in unserem Stadtteil die Mieten explodieren und ein Dach über dem Kopf längst Spekulationsobjekt statt Grundbedürfnis ist, uns und allen anderen davon betroffenen liebend gern demonstriert, dass es möglich ist, sich gegen das Naturgesetz des Kapitalismus zu wehren und dass sich das auch lohnt.
Warum also verbarrikadieren wir uns heute nicht und verteidigen unseren Laden, wenn die Bullen kommen, die Hüter*innen des Eigentums, um uns rauszuholen? Es liegen intensive Wochen des Kampfes für den Verbleib an unserem langjährigen Standort hinter uns, die definitiv auch viele Momente der Stärke durch Solidarität mit sich gebracht haben. Und doch sind wir trotz all der Unterstützung und der blühenden vielfältigen Wiederbelebung des Li(e)ber Anders in diesem Sommer nicht so stark geworden, um nicht nur sagen zu können, was uns nicht passt, sondern dafür zu sorgen, dass das, was uns nicht passt, nicht länger geschieht; dass wir vom politischen Protest zur Konfrontation mit diesen brutalen Verhältnissen und ihren Handlanger*innen, zum Widerstand übergehen können.
Denn zuletzt waren wir vor allem damit beschäftigt, unsere Transparente, unser Archiv und unsere Möbel in Sicherheit zu bringen, um Wohl oder Übel und so schnell wie möglich andernorts weitermachen zu können. Die letzten Wochen haben Kraft gegeben, aber auch gezehrt. Wie so oft mussten wir zum heutigen Tag also abwägen, ob wir uns in ein politisch richtiges, aber für die Fortexistenz unseres regulären Ladenbetriebs doch relativ perspektivloses Rückzugsgefecht begeben, oder ob wir auf anderen Wegen dafür sorgen, die Zukunft unseres Projekts zu sichern. Wir haben uns für letzteres entschieden. Dass wir nun für ein Vierteljahr im Kirchenweg 32 unterkommen, wo uns die Stadt Kiel für zu viel Geld befristet einen zu kleinen, ohnehin leerstehenden, Laden vermietet, ist nur eine Zwischenstation auf diesem Weg des nüchternen Pragmatismus. Dies zeigt aber auch: Auf diesem Weg brauchen wir auch in den kommenden Wochen und Monaten euch alle – ein höh’res Wesen wird uns auch diesmal nicht retten. Wenn ihr also von geeigneten Räumlichkeiten wisst, in denen wir zeitnah und langfristig weitermachen könnten, lasst es uns wissen. Alle regulären Ladenaktivitäten finden solange ab nächster Wochen nahtlos im Li(e)ber Anders im Exil im Kirchenweg statt. Kommt vorbei und arbeitet mit uns an einer Perspektive für einen selbstverwalteten sozialen und politischen Ort in Gaarden!
Am 1. September 1991 hat die Arbeitsloseninitiative hier ihren Arbeitslosenladen eröffnet, am 15. Dezember 2008 feierte der Libertäre Laden seine Einweihung und ebnete den Übergang zum Projekt Li(e)ber Anders, das hier bis heute existiert hat. Heute endet ein fast genau 30 Jahre andauerndes Kapitel der politischen und sozialen Organisierung von Unten in Gaarden, die selbstredend genauso lang auch ein Kapitel vielfältiger linksradikaler Politik in Kiel gewesen ist. Die Wenigsten von uns waren bei der Eröffnung des Ladens dabei, manche noch nicht einmal geboren. Fast alle haben die Iltisstraße durch oder mit ihm kennengelernt, er ist für uns alle nicht wegzudenken. Der heutige Tag ist ohne Frage ein Rückschlag für uns alle, für die radikale Linke in Kiel. Es beginnt nun eine Phase der Ungewissheit in ungewissen Zeiten. Dass wir den Laden nicht aus eigener Kraft halten konnten, sollten wir auch zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, wie wir als radikale Linke wieder zu vielfältigerer Handlungsfähigkeit gelangen können. Die Zeiten für Projekte wie unseres werden nicht leichter, wir können ihnen nur begegnen, wenn wir gut organisiert sind und uns auch mal zutrauen, über uns hinaus zu wachsen. Die nächsten Monate werden sicher auch Gelegenheiten bieten, diese Lücke zu schließen. Auch wenn für uns der heutige Tag mit der alles andere als kämpferischen Schlüsselabgabe endet, grüßen wir alle Genoss*innen, die vielleicht noch den Abend, die Nacht oder die kommenden Tage und Wochen nutzen, um klarzustellen, dass die Zerstörung selbstverwalteter Räume eben auch ihren Preis haben kann.
Wir danken allen, die mit uns und hinter uns gestanden haben und stehen werden. Wir verlassen heute schweren Herzens diesen geliebten Ort, aber wir werden nicht verschwinden. Wir gehen gehobenen Hauptes und lassen uns nicht verdrängen, das Li(e)ber Anders wird weiterleben. Der schäbige Name Ulrike Berger hingegen möge auf Ewig die Skrupellosigkeit der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bedeuten, die wir verachten. Und wir geloben: Gaarden vergisst nicht!
Gegen Verdrängung – für einen solidarischen Stadtteil!
Mieter*innen aller Stadtteile vereinigt euch!
Wir waren, wir sind, wir werden Li(e)ber Anders sein!